„Nach Agia Paraskevi, bitte.“ Der Taxi-Fahrer schaut uns verdutzt an. Nein, nicht zum Thermalbad an der Küste. Ja genau, wir wollen ins kleine Dorf Agia Paraskevi oben in den Hügeln der Kassandra. Denn dort beginnt die 22,3 Kilometer lange Wanderung auf dem Kassandra Höhenweg, die wir uns vorgenommen haben. Ich zeige dem Taxifahrer meinen Reiseführer, in dem die Route samt Start- und Zielpunkt auf der Karte markiert ist. Er schaut eine Weile, nickt dann zustimmend, wir steigen ein und fahren los.
Mit dem Taxi quer über die Kassandra
Die Kassandra ist der erste Finger der Halbinsel Chalkidiki, die sich auf dem griechischen Festland südöstlich von Thessaloniki befindet. Neben Kassandra ragen noch die bergigere Sithonia (817 m) und als dritter Finger Athos mit seinem gleichnamigen, heiligen Berg (2.033 m) in die Ägäis hinein. Unser Quartier liegt im Nordwesten der Kassandra. Von dort fährt uns das Taxi hinüber an die Ostküste, bis wir bei Pefkochori ins Inland abbiegen. Eine Dreiviertelstunde und 50 Euro später lässt uns unser Fahrer am Dorfplatz „Platía Daravigka“ in Agia Paraskevi raus.
Agia Paraskevi ist beschaulich
Ein kleines Dorf mit 360 Einwohnern, einer griechisch-orthodoxen Kirche und ein paar kleinen Lädchen. Touristen verschlägt es augenscheinlich nur selten hierher. „Wie seid ihr hergekommen? Mit dem Fahrrad?“, wundert sich der Kassierer im kleinen Supermarkt, wo Manuel sein Proviant um Bananen aufstockt. Witold lässt sich im Bistro am Dorfplatz derweil ein „Club Sandwich“ zaubern, das neben den Standardzutaten wie Bacon, Käse und Salat wundersamer Weise auch Kartoffelchips enthält. „Happy Meal“ steht auf der Pappschachtel, das ist dann wohl die griechische Variante. Wir legen noch flott eine Schicht Sonnencreme auf, dann starten wir unsere Wanderung.
Den richtigen Einstieg zu finden, ist nicht ganz leicht. Schilder? Fehlanzeige. Wir laufen 50 Meter zurück zum Mini-Kreisverkehr und entscheiden uns nach zwei Fehlversuchen für die geradeaus führende Hauptstraße. Nach 500 Metern zweigt links ein breiter Feldweg ab. Juchu, hier sind wir richtig! Hier gibt es endlich auch Schilder, die bestätigen, dass wir auf Kurs sind.
Gut gelaunt folgen wir dem Höhenweg
Es läuft sich angenehm einfach. Der Weg ist breit und in gutem Zustand, so dass er auch problemlos von Jeeps befahren werden kann. Links und rechts eröffnen sich immer wieder Ausblicke auf die Küste – die Kassandra ist ja nur rund acht Kilometer breit. Mit grenzenlosem Optimismus schaue ich gen Osten. Kann man ihn sehen, den Athos? 2.033 Meter misst der heilige Berg auf der Südostspitze des dritten Fingers. 2.033 Meter, die sich direkt aus der Ägäis erheben und bei unserer Wanderung unser stetiger Begleiter am Horizont sein sollten. Soweit die Theorie.
In der Praxis blicke ich auf eine in Dunst gehüllte Sithonia, deren Umrisse sich mehr oder weniger klar abzeichnen. Weitblick? Nö, heute mal nicht. Dass Frauen den Athos nicht betreten dürfen, habe ich ja mittlerweile gelernt. Sogar weibliche Haustiere sind dort verboten (in echt!). Auf ihm befindet sich nämlich eine orthodoxe Mönchsrepublik mit autonomem Status unter griechischer Souveränität. Dass Frauen den Berg aber nicht mal aus der Ferne betrachten dürfen, finde ich dann doch etwas kleinkariert. Sei’s drum. Das Wandern macht trotzdem Spaß.
Ich genieße die Natur entlang des Wegs, die Menschenleere um uns Kleingruppe herum und das gute Gefühl der sportlichen Betätigung. Ein plötzliches Rums drosselt meinen Endorphin-Ausstoß wieder. Verflixt, es gewittert. Und auch der Regen lässt nicht lange auf sich warten. Gut, das wir uns alle noch mit Sonnencreme eingeschmiert haben, so perlen die Regentropfen besser ab. Schließlich ergebe ich mich der Wetterlage und schlüpfe in meine leuchtend-rote Regenjacke.
Ich bin aber nicht der einige Farbtupfer in der mittlerweile trüben Suppe. Den Wegrand säumen nun gelb leuchtende Ginsterbüsche, die dem Grauschleier eine fröhliche Note verleihen.
Der Regen nimmt ab und wieder zu. Es kommt der Punkt, wo wir nasser nicht werden können. Bei den angenehmen Temperaturen frieren wir immerhin nicht, zumindest solange wir in Bewegung sind. Längere Pausen können wir allerdings nicht machen.
Der Weg ist fast immer eindeutig
Rechts und links zweigen hier und da kleine Pisten ab, die wohl zu den Örtchen an der Küste führen. Besteht doch mal ein leiser Zweifel, welcher Abzweig der richtige ist, so orientieren wir uns an der Stromleitung, die uns fast den kompletten Weg begleitet. Diesen Tipp verheimlicht mein sonst recht präziser Reiseführer, vielleicht weil die Info wenig werbewirksam für die Wanderung klänge. Die Holzstrommasten tun der Schönheit der Wanderung jedenfalls keinen Abbruch, lediglich in Verbindung mit dem andauernden Grummeln und Blitzen am Himmel bereiten sie uns leichte Sorgen.
„Eichen sollst du weichen, Buchen musst du suchen“, besagt ein altes Sprichwort zum Thema Gewitter. Bäume sind hier auf dem Höhenrücken der Kassandra allerdings Mangelware, bedingt durch verheerende Waldbrände zuletzt im Jahr 2006. Die vereinzelten Kiefern wirken im Nebel etwas geisterhaft. Das mag unter anderem auch an den Plastikbeuteln liegen, die an die Baumstämme geheftet sind. Wozu bitte das? Des Rätsels Lösung: Die Beutel fangen das Baumharz auf, das zur Würzung von Retsina-Wein verwendet wird.
Die nächste Kuriosität lässt nicht lange auf sich warten. Wir passieren eine Wiese, auf der mehrere Reihen Autoreifen liegen. Was hat es damit auf sich? Wir schmieden wilde Theorien. Befindet sich hier ein geheimes Bootcamp des griechischen Militärs? Über die richtige Lösung stolpern wir erst einige Kilometer später, als wir einen Stapel Holzkisten passieren. Bienenkisten! Natürlich. Auf den Autoreifen müssen mal Bienenkisten gestanden haben, die sollen ja leicht erhöht aufgestellt werden. Entlang des weiteren Wegs entdecken wir noch mehrere aktive Bienenkisten – bei den herrlichen Blumenwiesen hier oben auch eine clevere Idee.
Neben den Bienen treffen wir noch weitere Wildtiere. Witold inspiziert gerade eine Baracke entlang des Wegs, als es plötzlich laut neben ihm grunzt. Erschrocken springt er einen Meter zur Seite, und auch wir anderen zucken ordentlich zusammen. Ein Wildschwein! Nein zwei. Aber – puh! – sie befinden sich hinter einem Zaun. Wir müssen lachen, und als unser Puls wieder auf Normallevel ist, müssen die beiden Wildschweine noch ein kleines Fotoshooting über sich ergehen lassen.
Endlich klart es auf!
Die Sonne scheint warm auf uns herab und trocknet unsere klamme Kleidung. Unser Schritt wird beschwingter, und wir genießen die Schönheit der Landschaft noch ein wenig mehr. Was so ein blauer Himmel doch ausmacht!
Langsam aber sicher schlängelt sich unser Weg bergab. Bald schon passieren wir die ersten Häuschen unseres Zielorts Fourká, wo die Dorfhunde unser Ankommen mit lautem Gebell quittieren. Ich fische die feuchte Visitenkarte unseres Taxifahrers von der Hinfahrt aus meiner Hosentasche und organisiere unseren Rücktransport.
Während wir auf unser Taxi warten, schlendern wir durch Fourka, das mit seinen gut 500 Einwohnern nur unwesentlich größer ist als Agia Paraskevi. Auch hier scheinen Touristen eher die Ausnahme zu sein, jedenfalls werden wir von den Einheimischen neugierig beäugt. Wir grüßen freundlich, man grüßt zurück. Dabei fällt mir auf, dass das die ersten Menschen sind, die wir seit Beginn unserer Wanderung in Agia Paraskevi treffen. Ich habe ja schon zig Wanderungen unternommen, in den unterschiedlichsten Ecken der Welt, aber ich kann mich nicht erinnern, auf einer Tour wirklich keiner Menschenseele begegnet zu sein. Sehr cool!
Schließlich fährt unser Taxi vor und bringt uns zurück zu unserem Hotel. Ein gelungener Tag, den ich mit einem Sprung ins Meer abrunde.
Der Kassandra Höhenweg ist trotz seiner Länge für jeden normal-sportlichen Menschen gut schaffbar. Festes Schuhwerk ist ratsam, Laufschuhe reichen aber auch. Wir haben für die 22 km lange Strecke alles in allem gute 5,5 Stunden gebraucht. Proviant und Wasservorräte sind unbedingt erforderlich, unterwegs gibt es keine Einkehrmöglichkeit. An den Ausgangspunkten gibt es kleinere Supermärkte und Lokale. Da die Route kaum schattig ist, empfehle ich Sonnencreme und Sonnenhut. Bei suboptimalem Wetter ist eine Regenjacke von Vorteil.
Kennt jemand den Kassandra Höhenweg aus eigener Erfahrung?
Hallo,
sehr schöner Artikel.
Chalkidiki ist so ein kleiner „Traum“, den wir uns auch noch verwirklichen möchten.
Vielen Dank.
OutdoorFollka