Ich habe ein Problem: Ich schaffe mein Reisepensum nicht. Ich plane eine Reise, notiere mir Wunschziele und Top-Sehenswürdigkeiten, um dann vor Ort festzustellen, dass zwischen den geplanten Stationen noch soooo viiiiele andere tolle Orte liegen, an denen ich einfach nicht vorbeifahren kann. Das Ende vom Lied: Ich schaffe nur die Hälfte der geplanten Tour. Schlimm? Nö, so gar nicht!
Dicker Fehler beim Reisen: Stress und Must-Sees
Als ich mit dem individuellen Reisen begonnen habe, habe ich ständig den Drang verspürt, in der gegebenen Reisezeit so viel wie nur möglich „zu schaffen“. Ich habe mir die (vermeintlichen) Hotspots herausgesucht, habe an der optimalen Route getüftelt und bin die Reisen mit einem ziemlich starren (Zeit-)Plan angegangen. Das waren alles schöne Reisen, keine Frage! Aber bei aller Reisefreude ist trotzdem immer ein Schatten mitgereist. Die leise Angst, etwas Tolles zu verpassen. Das nagende Gefühl, ob nicht die andere Strecke doch die schönere gewesen wäre. Das Bedauern, wenn ich für einen herrlichen Ort zu wenig Zeit eingeplant hatte. Der Ärger, wenn sich ein Etappenziel als nicht so spannend herausstellte.
Mittlerweile hat sich mein Reiseverhalten gewandelt. Ich reise langsamer und vor allem flexibler. Meine Reiserouten sind deutlich kürzer. Vor allem aber habe ich keinen fixen Plan mehr, sondern einen Pool von Möglichkeiten, aus denen ich nach Lust und Laune (und Wetter!) auswähle. Manchmal lande ich an Orten, die ich bei meiner Vorabplanung gar nicht auf dem Schirm hatte. Ich fühle mich während der Reise weniger getrieben, bin entspannter und zufriedener. Ich genieße das Hier und Jetzt, ungetrübt, denn ich stelle mir nicht mehr andauernd die „was wäre wenn“-Frage.
Slow Travel: Wie kam’s dazu?
Meinen Wandel hin zum langsameren und bewussteren Reisen könnte man jetzt einfach meinen Töchtern in die Schuhe schieben. Klar, mit Kindern reist es sich langsamer. Meine Kinder sind trotzdem unschuldig, den Weg zum Slow Travel habe ich schon vorher eingeschlagen. Mich haben meine Unzufriedenheit und meine Sorge, etwas zu verpassen, selbst schwer genervt. Ich wollte meine Reisen uneingeschränkt genießen können. Zu diesem Wunsch gesellten sich mit zunehmender Reiseerfahrung auch ein paar wichtige Erkenntnisse, die mich Schritt für Schritt in Richtung Slow Travel geführt haben.
1. Ich kann wiederkommen.
Ich muss mich nicht abhetzen, um eine geplante Route bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Wenn es mir irgendwo gefällt, bleibe ich dort einfach länger und genieße die Reisestation intensiver. Dadurch verkürzt sich am Ende natürlich meine Reiseroute, aber ich kann ja bei einer nächsten Reise einfach dort wieder anknüpfen, wo ich beim ersten Mal aufgehört habe. In Irland beispielsweise haben wir einen Roadtrip entlang der Westküste unternommen. Den Slea Head Drive sind wir gleich zwei Mal gefahren, dafür mussten wir am Ende das Connemara auslassen. Das Connemara läuft uns aber nicht weg, unsere nächste Irland-Reise wird mit ziemlicher Sicherheit genau dort beginnen.
2. Eine 100%-Quote ist wie ein Sechser im Lotto.
Manchmal wollen bestimmte Planungen einfach nicht aufgehen. Unsere Wanderung durch die Hardangervidda ist buchstäblich ins Wasser gefallen. Ärgerlich, klar, aber kein Weltuntergang. Wir haben dann einfach das Fjellmuseum besucht und uns dort angeschaut, was wir live verpasst haben. Eine gewisse „Ausfallquote“ gehört zu einer Reise irgendwie dazu. Und manchmal geben diese Ausfälle auch noch lustige Anekdoten für die Daheimgebliebenen ab.
3. Unverhofft kommt oft.
Zumindest seit ich nicht mehr völlig verbohrt einem fixen Plan folge. Bei unserer ersten Elternzeitreise wollten wir mehr oder weniger direkt Nordspanien ansteuern, aber dann kam uns Frankreich dazwischen. In Lyon bin ich über einen Flyer von der Auvergne gestolpert, dort fuhren wir hin und blieben fünf Tage. Es folgten fünf Tage Dordogne und fünf Tage Westküste. Meine Frankreich-Liebe war entflammt.
Eine nette Geschichte ist uns auch auf den Lofoten passiert. Unsere Gastwirtin hat uns ein super-leckeres Kabeljau-Rezept an die Hand gegeben. Am Ende hatten wir nicht nur ein ziemlich abenteuerliches Kocherlebnis, sondern bekamen beim Fischkauf auch gleich noch eine Führung durch die Fischfabrik dazu.
Von daher: Weniger planen und offen sein für das, was kommt!
4. Es gibt charmante Alternativen.
Dank Instagram & Co. passiert es ja mittlerweile, dass bestimmte Hot-Spots vom Tourismus völlig überrollt werden. Wobei ich es etwas zu einfach finde, die Schuld allein den sozialen Medien in die Schuhe zu schieben. Die Konsumenten der Medien, die Leser und Fotobetrachter, tragen ihren Teil dazu bei. In unserer heutigen Gesellschaft herrscht ja leider eine ausgeprägte „höher, schneller, weiter“-Mentalität. Keiner will das zweitbeste Reiseziel oder die B-Sehenswürdigkeit, alle wollen die Nummer eins. Deshalb funktionieren die ganzen Berichte à la „Die 10 schönsten Wanderungen in Norwegen“ oder „Die drei Dinge, die du bei einem Besuch in Barcelona erlebt haben musst“ so gut. Zu diesem Thema hat Thomas vom Reisen-Fotografie-Blog übrigens mal einen netten Beitrag geschrieben: Die schönsten Fotospots der Welt – und die Realität dahinter.
Ich versuche, mich von diesem Superlativ-Denken so gut es geht freizumachen. Zum einen sind die herrlichsten Flecken auf dieser Welt nur noch halb so schön, wenn man sie mit riesigen Menschenmassen teilt. Zum anderen gibt es viele vermeintliche B-Ziele, die sich wie A-Ziele anfühlen, auch wenn am Ende nicht das 1A-Instagram-Foto dabei heraus kommt.
5. Die Balance zwischen Erlebnis und Entspannung muss stimmen.
Ich liebe es, auf Reisen aktiv unterwegs zu sein. Wandern, Sightseeing, das Land entdecken. Um nach dem Urlaub aber nicht kurz vor dem Zusammenbruch zu stehen, muss eine Reise Erholungspausen beinhalten. Manchmal sind unsere Reisen in Aktion und Erholung aufgeteilt. In 2010 haben wir beispielsweise einen Roadtrip mit verschiedenen Wanderungen in den Pyrenäen unternommen. Im Anschluss haben wir fünf Tage lang an der Costa Brava die Füße hochgelegt, am Strand relaxt und abends lecker geschlemmt. Aktion und Erholung können sich aber auch regelmäßig abwechseln. Bei unserer Winterreise nach finnisch Lappland hatten wir täglich vormittags einen spannenden Programmpunkt wie eine Huskytour oder Motorschlittensafari. Am frühen Nachmittag begann dann der entspannte Part: Bei Tee und Keksen haben wir ein Gesellschaftsspiel gespielt, abends haben wir vor dem Kamin gechillt oder in der Sauna relaxt.
6. Ich kann nicht die ganze Welt bereisen.
Muss ich auch nicht. Reisen bedeutet für mich, Neues zu entdecken. Das müssen aber nicht zwingend die entlegensten und exotischsten Orte der Welt sein. Okay, die Galápagos Inseln sind entlegen und exotisch und waren den Besuch wirklich, wirklich wert! Es war aber auch ein „once in a lifetime“-Erlebnis. Neues entdecken kann ich auch, ohne halb um den Erdball zu jetten. Ich mag Europa, sehr sogar. Unser Kontinent hat viele verschiedene Facetten auf Lager, jedes Land in Europa hat so viel Wunderschönes zu bieten, damit sind wir die nächsten Jahre gut beschäftigt. Die ein oder andere Fernreise möchte ich sicherlich auch nochmal unternehmen (die Weltwunderer befeuern zum Beispiel ständig meine Neuseeland-Sehnsucht), aber den Hauptteil unserer Reisen werden wir höchstwahrscheinlich in Europa zubringen.
7. Qualität statt Quantität
Eines mag ich überhaupt nicht: Wenn Reisende auf ihren Blogs und Social Media Profilen die Anzahl ihrer bereisten Länder proklamieren. Wozu macht man das? Ich spiele jedenfalls nicht mit beim Länder-Bingo. Außerdem finde ich, dass ein Städtetrip nach Paris nicht den Frankreich-Haken rechtfertigt. Den Haken führe ich auf meiner nicht vorhandenen Liste seit der zehnten Klasse, als ich von der Schule eine Bustour nach Paris mitgemacht habe. Nachts hin, tagsüber die Stadt besichtigen und in der nächsten Nacht wieder zurück. War super, hat Spaß gemacht, keine Frage. Verdient habe ich den Frankreich-Haken gefühlt aber erst jetzt, nachdem ich insgesamt drei Monate in verschiedenen Ecken des Landes verbracht habe. Und abgehakt habe ich Frankreich noch lange nicht, im Sommer geht’s schon wieder hin.
Slow Travel: Langsam und bewusst reisen
Mir persönlich haben diese Erkenntnisse viel mehr Entspannung und Freude auf Reisen beschert. Ich mag es, mich in Kleinstetappen vorwärts zu hangeln und eine Region intensiv kennen zu lernen. Ich finde es großartig, die B- oder C-Ziele zu erobern, während sich die Massen an den A-Zielen drubbeln. Und gerade mit Kindern glaube ich, dass wir mit dieser Reisephilosophie am besten fahren. Sich mit Kindern durch Massen zu schieben, macht mir keinen Spaß. Langes Anstehen, Wartezeiten oder lange Autofahrten, das raubt mir den letzten Nerv. Wir wollen möglichst viel draußen sein, wandern, die Gegend erkunden. Ja, das macht langsam. Es macht aber auch glücklich und entspannt.
Trudele durch die Welt.
Sie ist so schön, gib dich ihr hin,
und sie wird sich dir geben.
— Kurt Tucholsky
Blogparade: Verantwortung als Blogger
Mit diesem Beitrag nehme ich an der Blogparade zum Thema Verantwortung als Blogger von meiner lieber Bloggerkollegin Tanja teil. Auf den ersten Blick gibt es sicherlich ganz andere Themen, bei denen wir Blogger (oder auch wir Menschen ganz allgemein!) mit gutem Vorbild voran gehen könnten. Den Schutz der Natur zum Beispiel. Ariane von Heldenwetter hat ihre Gedanken rund um die Gletscherschmelze in Norwegen sehr schön festgehalten. Oder mehr Nachhaltigkeit im Alltag, was Nadine von Planet Hibbel sehr erfolgreich umsetzt. Überhaupt ist eigenes Handeln vorbildlicher, als allein über ein Thema zu bloggen. Die 5 Reicherts packen beispielsweise gerne mal zu und befreien Strände vom Müll, der dort angeschwemmt und hinterlassen wird. Ohne Frage, alles sehr wichtige Themen.
Den vorherrschenden Stress und Leistungsdruck in unserer Gesellschaft finde ich allerdings auch sehr bedenklich und ungesund. Betraf das vor einigen Jahren nur unseren Schul- und Berufsalltag, so hat dieser Druck mittlerweile den Weg in sämtliche Lebensbereiche gefunden. Eltern veranstalten regelrechte Wettbewerbe, wer die tollste Geburtstagsfeier ausrichtet, wessen Kind am schnellsten mit dem Laufen anfängt, oder wer den gesündesten Babybrei selbst zubereitet. Und auch beim Reisen jagen wir immer mehr den Superlativen hinterher. Ich erinnere mich noch an die Zeiten, als man sich über die ständig fotografierenden Japaner lustig machte. Heute laufen gefühlt alle mit einem Deppenzepter herum und posieren breit grinsend vor jeder Sehenswürdigkeit. Ohne Rücksicht auf die Anderen drängeln sich die Leute direkt in die erste Reihe vor, um ein gutes Foto für die Timeline oder Story auf Instagram und Facebook zu schießen. Jeder ist sich selbst der Nächste.
Die meisten Menschen jagen so sehr dem Genuss nach, dass sie an ihm vorbeilaufen.
— Søren Kierkegaard
Ich plädiere daher für mehr Gelassenheit, Langsamkeit, Zeit zum Genießen, Zeit zum Durchatmen, den Blick für die kleinen Dinge, Slow Travel. Im Alltag ist das häufig schwierig, mir fällt es zwischen Job, Kindern, Haushalt und Freizeitstress jedenfalls schwer. Versuchen sollten wir es dennoch immer wieder. Nach Feierabend, am Wochenende, vor allem aber im Urlaub. Eine Reise ist kein Wettbewerb. Auf einer Reise wollen wir etwas erleben, aber das Etwas muss ja nicht zwingend eine Aneinanderreihung von Highlights sein. Gebt den B- und C-Zielen häufiger eine Chance, sie könnten ganz überraschend eure A-Ziele sein. Legt Pausen ein. Qualität statt Quantität. Weniger ist oft mehr.
Wie reist ihr, schnell oder eher langsam? Tummelt ihr euch an den Hotspots oder entdeckt ihr lieber die unbekannten Perlen einer Region? Erzählt mir in den Kommentaren etwas über eure Reisephilosophie.
Da bin ich ganz bei dir. Weniger ist mehr, in jeglicher Hinsicht. Wir streichen heutzutage schon zuhause einiges vom „Programm“ und unterwegs meist noch mehr, da wir keine Lust auf Stress beim Reisen haben.
LG aus dem entschleunigten Skandinavien,
Hartmut
Das Praktische ist, dass ich durch das vorherige Streichen von Programmpunkten bzw. einer ganzen Region schon die Planung für den diesjährigen Sommerurlaub fertig in der Schublade liegen habe :-)
Liebe Grüße nach Schweden,
Nicole
Liebe Nicole,
für diesen Beitrag gibt es standing Ovation von mir. Wie recht du hast. Wir sind zwar auf Reisen eher schnell unterwegs – jedoch sind wir ebenfalls kein Freund von touristisch überlaufenen A-Zielen. Langes Anstehen und Reisezeit verschwenden ist nicht unser Ding. Sicher gibt es ein paar Dinge, die man gesehen haben sollte, jedoch ist es bei uns kein „abklappern“ und es ist auch nicht schlimm, wenn wir etwas nicht schaffen oder etwaswortwörtlich ins Wasser fällt. Neulich habe ich gesagt bekommen, wie um alles in der Welt wir denn die Pancake Rocks in Neuseeland auslassen konnten, nur weil es uns zu touristisch und zu überlaufen war. Ich bin mir sicher, dafür haben wir viele andere Dinge dort gesehen, auf die ein „Durchreisender“ gar nicht erst kommen würde.
Danke für diesen tollen Beitrag. Ich freue mich, dass du bei der Blogparade teilnimmst.
Liebe Grüße,
Tanja
Vielen lieben Dank, Tanja!
Bei euch bewundere ich immer wieder, wie ihr trotz einer längeren Route so viel unternehmt. Ihr scheint um Einiges besser organisiert und als Team eingespielt zu sein, denn es wirkt bei euch so gar nicht gehetzt. Du hast Recht, ein paar Dinge möchte ich am Ende doch sehen, auch wenn ich weiß, dass mich dort viele Besucher erwarten. Aber ein zwei etwas stressige Hotspots unter ganz vielen schönen B-Zielen kann ich aus Stressgesichtspunkten gut verknüsen.
Ich verfolge die Blogparade weiterhin gespannt, und eure Reisen sowieso (vielleicht lernen wir von eurer Orga noch etwas) :-)
Ganz liebe Grüße, Nicole
Toller Artikel, vielen Dank für Deine Gedanken! Ich gehöre auch eher zu den Slow Travellern. Pro Reise ein Land, mehr gibt es bei mir nicht. Und von diesem Land sehe ich – trotz vier Wochen, wenn es weit weg geht – auch immer nur einen Bruchteil. Ich mag es gar nicht, Must-sees abzuhaken. Ich schaue mir genau das an, was MICH interessiert – egal, ob das jetzt ein vermeintliches Must-see ist oder nicht. Weiterhin happy – und slow – travelling!
Liebe Sabine,
Bruchteil trifft es ziemlich genau. Das geht mir nicht nur bei Ländern, sondern schon bei einzelnen kleinen Regionen so. Wenn man sich nicht auf die Must-sees beschränkt, haben die Zielregionen plötzlich sooo Vieles zu bieten, dass die Reisezeit niemals für alles ausreicht :-)
Liebe Grüße, Nicole
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Hallo Nicole,
Deinen Artikel habe ich sehr gerne gelesen – und werde ihn in meinen Artikel für die Blogparade aufnehmen. Wir sind schon immer so gereist – ich wusste bloß nicht, dass es dafür einen Namen gibt.
Für mich sind die dauerhaften Erinnerungen eigentlich die, wo ich nichts gemacht habe. Ich erinnere mich zum Beispiel furchtbar gerne an die Mittagsschläfchen in Wien oder den Teestand in der Sonne neben der Hagia Sofia. Das sind dann die Dinge, wo ich ganz bei mir bin und das füllt die Akkus. Sicher ist es auch schön, das Highlight zu besichtigen. Aber meist hat man schon so viel davon gesehen oder darüber gelesen, dass die Erwartungen sowieso nicht erfüllt werden können…
Viele Grüße
Katrin
Liebe Katrin,
es gibt für alles einen Namen :-D Danke fürs Verlinken!
Du triffst den Nagel auf den Kopf. Es sind häufig die Kleinigkeiten, aus denen man sehr viel zieht. Über die kann und will ich teils auch im Blog nichts schreiben, der Leser würde die Situation eh nicht greifen können.
Und nun muss ich mal bei dir stöbern gehen :-)
VG, Nicole